Innenansichten der Megamaschine – kritische Theorie trifft Ökosozialismus


Buchbesprechung zu Fabian Scheidler:Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen

 Es ist ja klar. Etwas stimmt nicht mit der Daseinsverfassung des Menschen. Neben der

Gewalttätigkeit der sogenannten Zivilisationsgeschichte, die gerade noch im vergangenen

Jahrhundert unsagbares Leid in Form von Weltkriegen, Genoziden, Faschismen diverser Art und einem Einsatz von Technik in Form der Atombombe als Massenvernichtungsmittel hervorgebracht hat, wirft der drohende Ökozid, der konkret als "Zangengriffkrise" (B. Kern) von Klima- und Ressourcenkatastrophe beschrieben werden kann, als umfassender Vernutzungs- und Verschmutzungsvorgang ein noch grundsätzlicheres Licht auf die entgleiste conditio humana. Es sind nicht nur die polit- und sozioökonomischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Argen, sondern die ganze Art und Weise, wie der moderne Mensch sich selbst von der Natur her, in Natur und mit Natur definiert.

Betrachtet man diese falsche Grundverfassung des Mensch-Natur-Verhältnisses, das gleichzeitig immer auch ein Mensch-Mensch-Verhältnis, also ein gesellschaftliches Verhältnis ist, so tun sich, abgesehen von reaktionärer Zivilisationskritik à la Heidegger und Gehlen im linken Spektrum drei Denkrichtungen auf: der historische Materialismus, der den Stoffwechselprozess von Mensch und Natur in sich ausdifferenzierender Produktivkraftentwicklung zum Ausgangspunkt macht, wobei die Frage nach dem Wesen der Natur als Ding an sich als idealistisch ausgeklammert wird; Kants Verstandeskategorien, die als Bedingung der Möglichkeit von Erkennen dem unmittelbaren Naturzugang "an sich" einen subjektiv-kollektivistischen Riegel vorschieben, werden im Marxismus zu den Kategorien der Arbeit und der gesellschaftlichen Praxis, die hier ebenfalls eine erkenntnistheoretische Funktion bekommen: Erkennbar sind immer nur das vom Menschen Bearbeitete und damit die Interessenfragen gegenüber der Natur, die sich aus Naturnutzung und praktischer Naturerfahrung ergeben. Der Ökosozialismus ist auf dialektische Weise angesichts der zu Destruktivkräften gewordenen Produktivkräfte das Spiegelbild zum historischen Materialismus, gleichzeitig aber auch dessen konsequente Fortsetzung. Denn er leitet die Notwendigkeit radikaler gesellschaftlicher Transformation aus der objektiven Analyse des drohenden Ökozids, die sich aus bestehenden Herrschafts- und Arbeitsverhältnissen ergeben, ab. Eine dritte linke Variante der Kritik des Mensch-Natur-Verhältnisses beschreibt den umfassenden Entfremdungszusammenhang, der den Menschen durch die sogenannte Aufklärung von der Natur getrennt hat. Macht und Herrschaft werden analysiert, aber sie liegen hier tiefer als die Produktionsverhältnisse. Die Kritische Theorie oder Frankfurter Schule hat diese Denktradition begründet.

Fabian Scheidler nun lässt sich endeutig - dewegen meine aufwendige Texthinleitung - dieser

dritten Variante linker Kritik des Mensch-Natur-Verhältnisses zuordnen. Im Mittelpunkt seines

angenehm und flüssig zu lesenden Buchs steht die Entfremdungsproblemtik, die er schlicht die "Große Trennung" nennt, wobei das groß geschriebene "Groß" signalisieren soll, dass er hier einen terminologischen Meilenstein setzen will. Dichotomisch stellt er der Großen Trennung die "Verbundenheit" gegenüber. Dass er mit diesem Wortpaar Alltagssprache zu Analyse-Begriffen macht und darauf verzichtet, auf postmoderne Manier unverständliche latinisierende oder gräkisierende Neologismen zu lancieren, ist nicht nur sympathisch, es macht die diffizile Materie verständlich und leicht lesbar.

Das Buch scheint auf den ersten Blick nach dem traditionellen Schema aufgebaut zu sein, in

welchem die conditio humana meist historisch-graduell abgehandelt wird: von unbelebter zu

belebter Materie über Bewusstsein hin zu gesellschaftlichen Mustern, Fragestellungen und

Problemen. Doch der Schein trügt, von diesem Schema gibt es bei Scheidler unauffällige, aber

folgenreiche Abweichungen. Es stellt sich nämlich heraus, dass dem "Leben" (Kap. 2) von Anfang an Bewusstseinformen innewohnen, die dann auch auf die Betrachtungen über den "Stoff" (Kap 1) gedanklich zurückwirken. Scheidler argumentiert hier stark phänomenologisch, sieht er doch Bewusstsein als "Innenwelt", "Innenleben" oder "Erleben", und zwar eines, das teleologisch von subjektiven Zielen und Zwecken geleitet ist, was er explizit als Absage an das Denkmodell fixer genetischer "Programmierung" verstanden wissen will. Weder das Emergenz-Prinzip, das als Ganzes mehr als die Summe seiner Einzelteile entstehen lässt, noch das Prinzip einer geschichteten Substanz, die als psychische oder geistige der Lebenssubstanz aufsitzt, können befriedigende Antworten über die Bewusstseinsfrage geben. Scheidler bekennt sich hier im weitesten Sinn zum Panpsychismus und gibt zu bedenken: "Was wir Materie nennen, ist gar nicht so tot wie wir glauben. Die Trennlinie zwischen Belebtem und Unbelebtem reicht nicht in eine absolute Tiefe, das Unbelebte trägt bereits Vorformen, Potentiale, Keimformen lebendigen Erlebens in sich. Mit anderen Worten: Der Fehler, der uns in die Sackgasse geführt hat, liegt in einem falschen Begriff der Materie, wie er zu Beginn der neuzeitlichen Wissenschaften gefasst wurde." (84)

Dieser Richtigstellung schließt der Autor gleich noch eine zweite an,wenn er im dritten Kapitel

"Kreativität" weder durch ein der Natur äußeres Schöpfungsprinzip noch durch blanken Zufall im Sinn eines darwinistischen Trial and Error begründet wissen will. Er argumentiert für die

Selbstorganisation der Materie, bemüht die dem Emergenzbegriff verwandten Begriffe der

"Fulguration" (K. Lorenz) und der "Bisoziation" (A. Koestler). Dem Panpsychismus stellt er hier

eine Art Pan-Evolutionismus zur Seite, indem die Kreativität in der sich evolutionär entfaltenden Natur mit der Kreativität im menschlichen Bewusstsein zusammengebracht wird. Es stelle sich die Frage, "ob die menschliche Kreativität, wie sie sich in den Künsten, den Wissenschaften, den Religionen, dem Humor und den sozialen Organisationsformen zeigt, ein einmaliges und fremdartiges Phänomen in einem ansonsten blinden und mechanischen Universum ist, oder ob sie nicht vielmehr als Teil und Weiterentwicklung einer umfassenderen Kreativität zu betrachten ist. Mit anderen Worten: Sind menschliche Kreativität und Evolution strukturell verwandt, entstammen sie einer gemeinsamen Wurzel?" (125) Dass der Streit um monistische und dualistische Naturerklärungen die Philosophiegeschichte durchzieht, ist Scheidler klar. Die scheinbare Unlösbarkeit des Problems sei ja gerade Ergebnis einer entfremdenden Trennung von der Natur, argumentiert er. Ernst Bloch hat diese Denktradition, die der Natur kreative Selbstorganisations- Potentiale zugesteht, so dass der Mensch mit seinem Bewusstsein eher unter ihr als über ihr steht, die "aristotelische Linke" genannt. Nur mit und entlang der Natur, die sich im Bewusstsein des Menschen von seinem eigenen übergriffigen Herrschaftsanspruch zu emanzipieren hat, kann er erfassen, was er selbst jenseits von Selbst-Hypostasierung und anthropozentrisch pojizierter "rein geistiger" Gottesbilder überhaupt ist. Bloch ging sogar von einem "Natursubjekt" aus, das als natura

naturans im Sinne Spinozas, als Schaffensprinzip dereinst in einer befreiten Gesellschaft als

Versöhnung von Mensch und Natur hinter den manifesten Erscheinungen, der natura naturata, erfasst werden könnte. Das Telos der Natur sei dann, hier war Bloch noch weit spekulativer als Fabian Scheidler, der auch an einem biologischen Telos-Prinzip festhält, die Entwicklung zu einem Menschen hin, der sich gesellschaftlich seiner Herrschaftsansprüche entledigt, indem er gleichzeitig die Natur in und um sich erkennt. Leider geht Scheidler auf Bloch trotz dieser gedanklichen Übereinstimmung nicht weiter ein, erwähnt ihn aber im Zusammenhang mit der utopischen Idee einer mit der Natur "versöhnten" Technik.

Damit wären wir beim zweiten Teil des Buchs, denn die "technokratische Weltsicht", eben nicht in "Naturallianz" (Bloch) oder in "konvivialer Technik" (Illich), ist der eine Grund der Großen Trennung neben dem zweiten einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft, zusammen als technokratisch-kapitalistische "Megamaschine", eine Metapher, die letztlich auf Marxens Begriff des kapitalistischen "automatischen Subjekts" zurückgeht. Beide Komponenten der Großen Trennung ergeben sich zwangsläufig aus dem grundsätzlich falschen Naturverständnis des Menschen. Scheidler legt sehr anschaulich dar, wie die beiden zerstörerischen Komponenten im Aufklärungsprozess ineinandergreifen. Gedanklich ist er hier ganz Franfurter Schüler, man sieht bei der Lektüre die Entfremdungs-Analysen Horkheimers, Adornos, Fromms und Marcuses im Hintergrund aufscheinen, die unverständlicherweise jedoch ebenfalls nicht erwähnt werden, lediglich einmal in einer Fußnote. Scheidler formuliert die Kritik an instrumenteller Vernunft zeitgemäßer, frischer, moderner, eindringlicher, weil angesichts der Öko-Krise als Aswuchs sich falsche Totalität heute erst vollständig zeigt. Letztlich fügt er aber Bekanntem hier nichts Neues hinzu: Technische und ökonomische Berechenbarkeit und Zerlegbarkeit von Natur spannen ein

unsichtbares, aber gesellschaftlich verinnerlichtes Herrschaftsnetz von Verwertung, Ausbeutung, Kontrolle, Verfügungsgewalt, Ausgrenzung und Vernichtung über die Lebensbedürfnisse von Mensch und Natur. Vielleicht muss das ja auch nicht neu sein, eine mit lebendiger Sprachkraft durchformulierte Neuauflage der kritischen Theorie ist immer wieder gut. Als Ausweg aus der chronischen Entfremdungskrise kommt Scheidler jedoch zu prekären Schlussfolgerungen. Es bedürfe, so fordert er, einer am Ideal der Verbundenheit orientierten Weltsicht, einer "Kosmologie" die als sinnhafte "symbolisch-kosmische" der entfremdenden "wörtlich-autoritären" entgegenzusetzen sei, erstere "Kosmologie Typ K", letztere "Kosmologie Typ A" genannt. Die gute Kosmologie vereinigt Vorstellungen über Welt, Leben und Gesellschaft, die aus wirklichen Erfahrungen kommen, das Innenleben respektieren, auf Beziehungen und Kooperation gerichtet sind, Wahrheitsansprüche nur relativ und ohne autoritären Anspruch stellen, emotionale Dimensionen zulassen. Lakonisch wird festgestellt, dass solche eine Kosmologie ja nicht einfach so entstehe, sondern langsam heranreifen müsse. (201) Abgesehen davon, dass eine derart umfassende Weltsichtweise oder Kosmologie tatsächlich nicht ahistorisch als etwas Fertiges, Ganzes und Richtiges entstehen und gedacht werden kann, was Scheidler auch weiß, denn sonst wär sie ein geschlossenes System, das er gerade ablehnt, fehlt hier der Bezug zur Lebenspraxis der

Menschen als Arbeitsbeziehungen einschließlich der dadurch modellierten Bedürfnisstrukturen. Der Mensch wird hier zu einer idealistischen Abstraktion, zu einem Wesen, das unabhängig von Herrschaft und Macht um und in ihm durch Bewusstsein (Erkennen, Wahrnehmen, Deuten) definiert wird. Um eine Vorstellung vom richtigen Bewusstsein jenseits der Entfremdung zu bekommen, muss auch parallel dazu erst ein richtiges Sein, eine richtige Lebenspraxis, da sein. Zu Recht sagt Scheidler selbst, dass Richtiges und Falsches in der Lebenswirklichkeit durcheinander gehen. Man kann die Aspekte sinnvollen, unentfremdeten Bewusstseins zusammentragen, das ist dann ein Ansatz zur Utopie des Bewusstseins. Das darf aber nicht zur Schwarz-Weiß-Malerei werden. Hier hätten die Kategorien der Ideologiekritk der Frankfurter Schule wie die "bestimmte Negation" oder das Nichtidentitätspostulat doch helfen können, denn richtiges Bewusstsein liegt nicht einfach – zur Auswahl bereit – in einem Schaukasten links neben dem säuberlich

abgegrenzten falschen Bewusstsein rechts, sondern muss immer wieder negativ-dialektisch aus den Horizonten falscher Totalität herausgearbeitet werden. Die von Foucault analysierten Dispositive der Macht leben geradezu davon, dass sie Elemente oberflächlich "guter" Diskursstrukturen in "schlechte", weil von Machtstrukturen durchsetzte Diskursstrukturen, einbinden. Konkrete Utopie findet sich denn auch am Ende des Buchs recht wenig. Fabian Scheidler gelingt es zwar, wie in der ersten Buchhälfte die Entfremdung von der Natur, so hier den sozioökonomischen und sozioökologischen Herrschafts- und Entfremdungszusammenhang anschaulich in den wesentlichen Problempunkten darzustellen. Aber die utopischen Vorschläge werden nicht konkretisiert, sondern ergeben sich als Kritik an gesellschaftlichen Strukturen aufgrund der Naturbetrachtungen in Teil 1: Demokratisierung, die über das repräsentative Wahlsystem hinausgeht, wobei richtigerweise beachtet wird, dass Demokratisierung immer auch Wirtschaftsdemokratie einschließen muss; eine neue Naturwissenschaft, die vom in Teil 1 dargelegten Naturverständnis geleitet ist; ein an realen Wahrnehmungen und am Innenleben der Menschen orientiertes Bildungssystem; ein ent-mechanisiertes Körperbewusstsein mit entsprechendem Gesundheitssystem.

Wer also konkret-utopische Vorstöße in ökosozialistische Richtung finden will, wird hier nicht

wirklich fündig. Wer sich jedoch einen umfassenden und gut lesbaren Überblick über die schwer artikulierbare Entfremdungsproblematik des modernen Menschen verschaffen will, die sicher auch noch ein wesentliches Desiderat ökosozialistischer Theoriebildung ist, der greife zu diesem Buch.

Thomas Friedrichs